Donnerstag, 12. April 2012

"Good Grief"

Die Künstlerin Jacqui Parkinson beschäftigt sich mit vielerlei textilen Ausdrucksmitteln. Eine ihrer Ausstellungen, die - wenn ich es richtig verstanden habe - zur Zeit durch Kirchen wandert, habe ich vor ein paar Tagen in der Kathedrale von Exeter bewundern können. Es war Zufall, ich wollte eigentlich nur die Kathedrale sehen, aber Jaquis Arbeiten haben mich so bewegt, dass ich ihnen fast ebenso viel Zeit gewidmet habe wie der eigentlichen Kathedrale.

Bitte die Namensnennung "Jacqui" nicht als Anbiederung verstehen. Sie nennt sich selbst so in ihrem Gästebuch und hat ihr persönliches Grußwort im Rahmen der Ausstellung so unterschrieben.

Jacqui hat in Zeit eigener Trauer, nachdem sie ihren geliebten Mann durch Krebs verloren hatte, an diesen "Bildern" gearbeitet. In der Ausstellung "Good Grief" hängen keine Bilder im engeren Sinn, sondern bestickte Taschentücher. Die Taschentücher sind alle alt und waren zum Teil über Generationen in Gebrauch. Viele Tränen mögen in sie geweint worden sein, viel Kummer haben sie kennen gelernt. Jacqui hat eine Anzahl dieser Taschentücher in liebevoller Kleinarbeit mit Liedtexten, Gedichten, comicartigen Bildern und Symbolen bestickt und jedes für sich mit Silberfaden in einen Rahmen gespannt. Bilder der Taschentücher kann man auf ihrer Website Cathedral Exhibition sehen.

Es ist schwer zu sagen, was mich an dieser Ausstellung so erschüttert hat. Mich berührt jede sorgfältige und liebevolle textile Arbeit, gerade weil diese Arbeiten oft so gering geschätzt werden, auch und gerade von Menschen, die künstlerisch tätig sind. Mich berührt auch jeder Versuch, solche alten Arbeiten, von einer Art, wie sie heute gar nicht mehr hergestellt werden, zu präsentieren. (Wer benutzt heute noch Stofftaschentücher? Und macht sich gar die Mühe, sie liebevoll mit Spitzen und Monogramm zu verzieren?) Bei Jacqui kommt aber noch eine weitere Dimension hinzu, die symbolische Bedeutung des Taschentuchs, die mich ganz unmittelbar angegriffen hat. Das zierliche Damentaschentuch steht nicht nur für Kummer, sondern auch für die weibliche Ohnmacht vergangener Zeiten, als Damen wenig anderes übrig blieb, als dahinzusinken und das Tüchlein zu ziehen. Man findet unzählige Beispiele in der Literatur. Auch wenn das Privileg respektive der Fluch, untätig ins Taschentuch flennend dahinzusiechen, immer auf relativ kleine Kreise der Gesellschaft beschränkt geblieben ist - das reichverzierte Taschentuch ist eine speziell weibliche Art, dem Kummer und die Ohnmacht zu verbrämen.

Die Zeiten haben sich geändert. Was uns geblieben ist, Männern wie Frauen, ist der Kummer, gegen den es keine Hilfe gibt. Vielleicht hat Jacqui deshalb diese spitzenbesetzten und bestickten Taschentücher als Medium gewählt. Wo kein Kampf mehr möglich ist, hat sie den Kummer kultiviert und auf eine neue, abstrakte Ebene gehoben.

Für mich ist das kein Selbstmitleid, keine Zurschaustellung. Es ist die achtungsvolle Annahme von Ohnmacht und Verzweiflung, wie sie zum Leben gehört, auch wenn wir uns immer wieder so gern für allmächtig und unverwundbar halten mögen.

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